Erinnern und Weitergeben – Zeitzeugnis eines (fast) 103-Jährigen im Stadtmuseum Mosbach

Einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungskultur und Geschichte Mosbachs nach dem 2. Weltkrieg leistete Michael Kretz mit seinen Lebenserinnerungen, die ab sofort im Haus Paschke des Stadtmuseums Mosbach ausgestellt sind.

Museumsmitarbeitende Feesche und Müller mit Michael Kretz, (c) Stadt Mosbach

Mit Stefan Müller und Lotte Feesche blättert Michael Kretz im neuen „Lesebuch“, den Lebenserinnerungen des ältesten Mosbachers, die im Stadtmuseum Mosbach, Haus Paschke, bewahrt werden. ©Stadt Mosbach

„Diese Klarheit der Erinnerung, die erzählerische Tiefe, diese Wachheit im Geiste - das beeindruckt mich sehr.“ Ähnlich wird es, da ist sich Stefan Müller, Leiter des Stadtmuseums Mosbach sicher, zukünftig auch den Besucherinnen und Besuchern in der Museumsabteilung zur Geschichte der Heimatvertriebenen im Museumsgebäude Haus Paschke gehen.
 
Der Name Michael Kretz dürfte vielen Mosbacherinnen und Mosbachern geläufig sein. „In wenigen Tagen werde ich 103 Jahre alt. Dass ich mal so lange leben würde, das hätte ich nicht gedacht. Und jetzt ist ein Teil meiner langen Lebensgeschichte so schön im Museum verewigt.“ Dabei steht dem ältesten Einwohner der Stadt ein Lächeln im Gesicht. Selbst emotional berührt blättert Michael Kretz in dem neu erstellten „Lesebuch“, das es ohne ihn in der Ausstellung im neben dem „Haus Kickelhain“ gelegenen Museumsgebäude „Haus Paschke“ nicht geben würde.  
 
Auf 36 Seiten im Großformat, damit sehr lesefreundlich gestaltet, entsteht buchstäblich der Bilderbogen eines langen Lebens. Enthalten sind Fotos sowie schriftliche Aufzeichnungen von Michael Kretz, die „noch in Form gebracht werden mussten“. Beim Lesen im „Buch“ entsteht dabei mehr als nur ein Eindruck von der Biographie des ältesten Mosbachers, denn das Leben von Michael Kretz steht gleichzeitig exemplarisch für viele Millionen Vertriebene.

Geschichte der Vertriebenen

„Genau das ist uns wichtig“, betont auch Museumsassistentin Lotte Feesche, die das Lesebuch erstellt hat. „Rund 14 Millionen Deutsche waren während und nach Ende des Zweiten Weltkrieges von Flucht und Vertreibung betroffen. Michael Kretz war einer davon. Er ist ein Beispiel für die Vielen, die ihre Heimat verlassen und sich dann eine neue erschaffen mussten.“ Und Stefan Müller ergänzt: „Die Heimatvertriebenen haben einen beindruckend großen Anteil auch an der Entwicklung der Stadt Mosbach, nicht nur in wirtschaftlicher, sondern vor allem auch in sozialer Hinsicht. Damit ist das Thema für uns als Stadtmuseum wichtig, entsprechend ist lebensgeschichtliches Erzählen dafür ein geeignetes Stilmittel.“  
 
Von Krieg, Vertreibung, Neubeginn und Integration im Sinne von „Heimatfindung“ handelt das Kretz’sche Lesebuch, das von Feesche sorgfältig mit persönlichen Fotos des Seniors ausgestaltet wurde. „Ich habe ja genügend Fotoalben und Gott sei Dank habe ich auch noch ein recht gutes Gedächtnis. In den vergangenen Jahrzehnten habe ich einfach mein Leben aufgeschrieben. Gutes wie weniger Gutes“, so Michael Kretz.
 
Das „weniger Gute“, die Erinnerung an Krieg und Vertreibung, liest sich dabei wie eine Mahnung, die auch dem „Ü-100-Jährigen“ ganz wichtig ist. „Dass Menschen sich die Köpfe einschlagen, sich gegenseitig totschießen und all das Schreckliche, solche schlimmen Zeiten dürfen nie wieder kommen. Wir alle müssen dafür sorgen, dass sie nicht mehr kommen.“ Der Krieg in der Ukraine ist für Kretz „leider ein fürchterliches Beispiel dafür, dass der Mensch nicht aus den Erfahrungen der Geschichte lernt.“  
 
Der 1922 in Pesthidegkut, der heutigen Partnergemeinde Mosbachs, geborene Kretz hat die „schlimme Zeit“ als junger Mann nach seiner Zeit als ungarischer Soldat („Ich habe irgendwie die grausame Schlacht um Budapest überlebt“) bewusst erlebt. In 28 Viehwaggon-Transporten erreichten 1946 fast 30.000 Vertriebene das Auffang- und Verteilungslager Neckarzimmern. Einer davon war Michael Kretz mit seiner Familie. Knapp 17.000 Menschen wurden auf den Landkreis verteilt, ein Teil fand im Mosbacher Hammerweglager sowie in den Lagern Obrigheim und Aglasterhausen eine notdürftige Unterkunft. Traumatisiert und mittellos stand auch der gelernte Küfer Kretz vor einem kompletten Neuanfang in Mosbach, das ihm mit dem „Mut des Neubeginns und viel Arbeit, Glauben und Tatkraft“, wie es Kretz formuliert, längst zur zweiten Heimat geworden ist.

Ankommen und Verwurzelung

Im neuen „Museums-Buch“, dessen Redaktion und Gestaltung Lotte Feesche als „eine spannende, weil nicht nur museumsspezifisch, sondern auch in menschlicher Hinsicht anspruchsvolle Aufgabe“ bezeichnet, liest sich die Bilanz des bald 103-Jährigen so: „Das Ankommen und die Verwurzelung in der für uns neuen Welt war eine große Herausforderung. Dazu gehörten die Gründung meiner Familie und das Einleben in die bestehenden und sich entwickelnden, ganz anderen Lebensverhältnisse.“ Geblieben ist Michael Kretz die liebevolle Wertschätzung der alten Heimat Pesthidegkut. Entsprechend stolz ist der hochbetagte Mosbacher heute, die Gründung des Heimatvereins Pesthidegkut bereits viele Jahre vor dem eigentlichen Gründungsjahr 1980 vorangetrieben zu haben. Schließlich gehörte er auch zu den Gründungsmitgliedern, die - wie er heute noch - das „Donauschwäbische im Herzen“ trugen.
 
Die Vertreibung habe ihn und viele andere zwar heimatlos gemacht, gleichzeitig sei sie der Weg in die Freiheit und politische Sicherheit einer Demokratie gewesen. Oder, wie es im „Kretz’schen Buch“ künftig im Stadtmuseum zu lesen ist: „Dieser Staat ist uns letztlich zur neuen Heimat geworden und ermöglichte uns viele Jahrzehnte friedliches Leben.“
 
Stefan Müller ergänzt dazu: „Und jetzt, lieber Herr Kretz, sind Sie ein geistig beeindruckend junggebliebener, echter Mosbacher. Und gleichzeitig auch der älteste. Danke für Ihren wichtigen Beitrag zur Erinnerungskultur.“

Das Stadtmuseum Mosbach bietet in fünf Häusern rund um den Hospitalhof spannende Einblicke in die Stadt- und Regionalgeschichte, darunter das Haus Paschke.

Geöffnet sind die Ausstellungen von April bis Ende Oktober jeweils mittwochs und sonntags von 15:00 bis 18:00 Uhr.